Die Kläger der beiden Verfahren verlangen Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1c, Art. 5 Abs. 1c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004* (nachfolgend: Fluggastrechteverordnung), weil ihre für Februar 2010 vorgesehenen Flüge von Miami nach Deutschland von der beklagten Lufthansa AG wegen eines Streikaufrufs der Vereinigung Cockpit annulliert worden waren.
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In der Sache X ZR 138/11 wurde der für den 22. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Düsseldorf annulliert und die Reisenden wurden auf einen anderen Rückflug umgebucht, mit dem sie am 25. Februar 2010 in Düsseldorf eintrafen. In der Sache X ZR 146/11 wurde der für den 23. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Frankfurt am Main annulliert die Reisenden wurden auf einen Flug am 1. März 2010 umgebucht. In beiden Fällen geht es nicht um die Unterstützungsleistungen (Mahlzeiten, Hotelunterbringung), die das Luftverkehrsunternehmen bei Annullierung eines Flugs anbieten muss, sondern – jedenfalls in der Revisionsinstanz – ausschließlich um die Frage, ob Lufthansa auch die pauschale Ausgleichsleistung in Höhe von 600 Euro je Fluggast zu zahlen hat, die die Fluggastrechteverordnung grundsätzlich vorsieht, wenn ein Interkontinentalflug annulliert wird.
Nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung** entfällt diese Verpflichtung, wenn eine Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Lufthansa hat geltend gemacht, von der Pflicht zu Ausgleichszahlungen nach der Verordnung befreit zu sein, weil es sich bei dem Streik ihrer Piloten um ein außergewöhnliches und für sie unabwendbares Ereignis gehandelt habe und sie alle zumutbaren Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der annullierten Flüge ergriffen habe.
Die in erster Instanz zuständigen Amtsgerichte haben Lufthansa in beiden Fällen zur Leistung der Ausgleichszahlungen verurteilt. Im Verfahren X ZR 138/11 hat das Landgericht Köln die Berufung zurückgewiesen, weil ein Streik eigener Mitarbeiter des ausführenden Luftfahrtunternehmens kein außergewöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung darstelle. Dagegen hat im Verfahren X ZR 146/11 das Landgericht Frankfurt am Main auf die Berufung das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Ein Streik, auch derjenige des eigenen Personals des Luftverkehrsunternehmens stelle ein unabwendbares Ereignis im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung dar. Lufthansa habe die Annullierung des Rückfluges auch nicht durch zumutbare Maßnahmen vermeiden können. Insbesondere sei sie nicht verpflichtet gewesen, andere Piloten zur Aushilfe anzustellen.
Der für das Reise- und Personenbeförderungsrecht zuständige X. Zivilsenat hat nunmehr entschieden, dass außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung anzunehmen sein können, wenn der Flugplan eines Luftverkehrsunternehmens infolge eines Streiks ganz oder zu wesentlichen Teilen nicht wie geplant durchgeführt werden kann. Dies ergibt sich aus Wortlaut und Zweck des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung und steht im Einklang mit der Auslegung dieser Vorschrift durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). Die vom EuGH für technische Defekte entwickelten Maßstäbe sind auch für andere als Ursache außergewöhnlicher Umstände in Betracht kommende Vorkommnisse, wie etwa die in Erwägungsgrund 14*** der Fluggastrechteverordnung genannten, heranzuziehen. Auch insoweit ist maßgeblich, ob die Annullierung auf ungewöhnliche, außerhalb des Rahmens der normalen Betriebstätigkeit des Luftverkehrsunternehmens liegende und von ihm nicht zu beherrschende Gegebenheiten zurückgeht.
Dabei spielt es bei einem Streik, der in Erwägungsgrund 14 ausdrücklich als Ursache außergewöhnlicher Umstände genannt ist, grundsätzlich keine Rolle, ob der Betrieb des Unternehmens durch eine Tarifauseinandersetzung zwischen Dritten (z.B. beim Flughafenbetreiber oder einem mit der Sicherheitskontrolle betrauten Unternehmen) oder dadurch beeinträchtigt wird, dass eigene Mitarbeiter des Luftverkehrsunternehmens in den Ausstand treten. Ein Streikaufruf einer Gewerkschaft wirkt – auch soweit er zu einem Ausstand der eigenen Beschäftigten führt – „von außen“ auf das Luftverkehrsunternehmen ein und ist nicht Teil der normalen Ausübung seiner Tätigkeit, die durch den Streik als Arbeitskampfmittel gerade gezielt beeinträchtigt oder gar lahm gelegt werden soll. Eine solche Situation ist in aller Regel von dem betroffenen Luftverkehrsunternehmen auch nicht beherrschbar, da die Entscheidung zu streiken, von der Arbeitnehmerseite im Rahmen der ihr zukommenden Tarifautonomie und damit außerhalb des Betriebs des ausführenden Luftverkehrsunternehmens getroffen wird.
In den entschiedenen Fällen war dementsprechend die Streikankündigung der Vereinigung Cockpit geeignet, außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung herbeizuführen. Lufthansa hatte, nachdem zu erwarten war, dass die überwiegende Zahl der angesprochenen Mitarbeiter dem Streikaufruf nachkommen und somit keine zur Einhaltung des gesamten Flugplans ausreichende Anzahl von Piloten zur Verfügung stehen würde, Anlass, den Flugplan so zu reorganisieren, dass zum einen die Beeinträchtigungen der Fluggäste durch den Streik so gering wie unter den gegebenen Umständen möglich ausfallen würden und sie zum anderen in der Lage sein würde, nach Beendigung des Streiks sobald wie möglich zum Normalbetrieb zurückzukehren. Schöpft ein Luftverkehrsunternehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die Nichtdurchführung eines einzelnen Flugs in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können.
Danach hat der Bundesgerichtshof im Verfahren X ZR 146/11 die Revision der Kläger zurückgewiesen, weil das Landgericht Frankfurt festgestellt hat, dass Lufthansa mit einem Sonderflugplan geeignete und zumutbare Maßnahmen ergriffen hatte, um Annullierungen infolge des Streiks auf das unvermeidbare Maß zu beschränken, und daher rechtsfehlerfrei angenommen hat, dass die Absage des Fluges der Kläger nicht zu vermeiden war. Im Verfahren X ZR 138/11 konnte der Bundesgerichtshof dagegen nicht abschließend über die geltend gemachten Ausgleichsansprüche entscheiden, da vom Landgericht Köln Feststellungen zu den von Lufthansa ergriffenen Maßnahmen noch zu treffen sind.
Herausgeber: Pressestelle des Bundesgerichtshofs, 76125 Karlsruhe
Quellenangabe „Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 21. August 2012“.
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