Im Juli 2019 hatten wir in Ostanatolien einen schweren Verkehrsunfall, dessen Aufarbeitung mich an Grenzen gefĂŒhrt hat. Ein Weg, damit fertig zu werden, war die ausfĂŒhrliche Dokumentation meiner GefĂŒhle. Das wichtigste fĂŒr alle Hilfesuchenden: Die Verzweiflung geht vorĂŒber, denn Zeit heilt fast alle Wunden. Wenn nicht, dann suchen Sie nach professioneller Hilfe!
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Schiere Verzweiflung
Wie wird man mit schierer Verzweiflung fertig? Kann man das lernen? Kann man davon profitieren? Ich denke schon, aber man muss es halt auch erleben. Erleben tut man solche Sachen eher, wenn man Komfortzonen verlĂ€sst, aber die Falle kann auch im ganz normalen Alltag zuschlagen. FĂŒr mich war es schwierig zu beurteilen „ob ich mir das nicht alles selbst zuzuschreiben habe“ – also den Unfall auch als eine Art Strafe oder Quittung zu sehen. In der Nachbetrachtung ist „Schiere Verzweiflung“ nichts anderes, als eine Reaktion auf eine momentane oder andauernde Ausweglosigkeit. Gibt es Auswege, dann verschwindet auch die Verzweiflung. Aber der Reihe nach:
Momente, die sich ins Hirn bohren
Ich sitze hinter dem Steuer meines Ford Rangers und genieĂe die auĂergewöhnlichen Landschaften der OsttĂŒrkei, vor allem das entspannte Fahren hier, als mich ein von hinter mit hoher Geschwindigkeit anrauschender PKW bei einem Abbiegemanöver seitlich erfasst und unser Wohnmobil auf die Seite wirft. Wer das schon mal mitmacht weiĂ, wie intensiv sich solche Momente ins Hirn bohren.
Der Alptraum endet nicht
Man liegt auf der Seite, hÀngt im Gurt, um einen herum die Airbags und man verharrt regungslos in der Stille nach dem Aufprall, bis man plötzlich Stimmen hört. Man hofft noch ein paar Sekunden, dass es nur ein böser Traum ist. Ich bin gut im Aufwachen, wenn belastende TrÀume nicht mehr auszuhalten sind. Meist klappt das und ich kann mich wieder ins Kissen kuscheln. Diesmal klappt es nicht, so sehr ich es auch versuche.
Irgendwann hört man unter den vielen Stimmen ĂŒber einem seine Eigene: âDu musst ja irgendwann hier raus!â Obwohl man das eigentlich gar nicht möchte, lieber noch weitertrĂ€umen, auch wenn es ein mieser Traum ist.
Nichts ist, wie es sein soll
Ich bin unverletzt, aber Freude darĂŒber kommt nicht auf. In solchen Momenten erfĂ€hrt man komprimiert eine Zusammenfassung aller Dinge, die in den nĂ€chsten Tagen auf einen zukommen. Das ist in Deutschland schon schwierig, aber wie soll ich das im anatolischen Hinterland schaffen? Hier spricht nur jeder hundertste einen Brocken Englisch, wie wird die Polizei reagieren, wer hat Schuld?âŠ. Die Verzweiflung ist so groĂ, dass sie sich spĂŒrbar mit einem stĂ€hlernen Griff um dein Herz legt. Nichts ist grad, wie es sein soll.
Als mein Gurt gelöst wird sacke ich in mich zusammen, kann mich endlich wieder bewegen und eine der vielen HÀnde greifen, die mich aus der Tiefe des Autos ziehen wollen. Ich höre nichts auf dem linken Ohr, wahrscheinlich wegen der beiden Seitenairbags, die mir um die Ohren geflogen sind.
Man wĂŒrde alles fĂŒr einen Ausweg geben
Hier allein rauszukommen ist schon schwer, wenn man nicht unter Schock steht. Irgendwann sitze ich auf dem umgekippten Auto, schaue mich um und werde wieder von einer so tiefen Verzweiflung ergriffen, die man einfach nicht mehr beschreiben kann. Man wĂŒrde jeden Knopf drĂŒcken, jede Summe zahlen und jedes Mittel nehmen, um aus dieser Nummer herauszukommen.
Ich sitze auf der Seite meines mit unglaublicher Gewalt umgestoĂenen Autos und mein Verstand klappert die Optionen ab. Die gibt es nicht allzuviel in Ostanatolien mit immer zu wenig Geld in der Reisekasse, ganz anderen PlĂ€nen und einem Zuhause, das man verkauft hat, um sich diesen Camper leisten zu können.
Gehtâs den anderen gut? Ist jemand verletzt? Wo ist Sylvia?
Man möchte nur noch schreien
Das Sylvia unverletzt ist, ich selbst, auch der Hund, und auch die 3 Insassen des anderen Autos â all das macht es nicht besser, es macht es nicht mal weniger schlimm. FĂŒr sowas hat ein verzweifelter Verstand keinen Raum.
âHauptsache euch ist nichts passiert!â Ok, aber wenn du in Ostanatolien auf dem umgestĂŒrzten Auto sitzt, dann ist es dir wirklich egal, ob du dir was gebrochen hast oder nicht. Vielleicht wĂ€re es sogar einfacher mit ein paar Schmerzen oder wenn dich irgendein SanitĂ€ter in den Arm nehmen und ins Krankenhaus bringen wĂŒrde â sollen sich doch die anderen drum kĂŒmmern.
Was wÀre wenn? Darauf gibt es keine Antwort, denn es ist wie es ist!
âIst doch nur Blech! Sei froh dass es nicht schlimmer ausgegangen istâ Verzweiflung hat nicht diesen Spielraum fĂŒr Freude, sie legt sich wie eine eiserne Faust um dich, lĂ€sst dich schwer atmen, verzögert reagieren und denken. Diese eiserne Faust lĂ€sst dich nicht los, solange es keine direkten Auswege gibt und vor allem so lange es keine Anzeichen fĂŒr irgendeine Hoffnung gibt. Und Hoffnung stirbt, wenn du in Ostanatolien auf deinem umgekippten Wohnmobil sitzt und schreien möchtest.
Selbst die Hoffnung, dass du das alles nur trÀumst musst du irgendwann aufgeben.
Wer ĂŒberlebt, hat ein Luxusproblem
Ich weiĂ real ganz genau, dass ich auch hier gerade wieder ein Luxusproblem löse und die syrischen FlĂŒchtlinge in den Lagern um uns herum ganz andere Sorgen haben. Aber auch das interessiert deinen Verstand in diesem Moment nicht.
Er ist so mit der offensichtlichen Unmöglichkeit der ProblembewÀltigung befasst, dass er keine anderen Gedanken zulÀsst und das Scheitern so als Monument in deine Zukunft pflanzt. Wir sind 5000 Kilometer von zuhause entfernt, haben einen 3,5 Tonnen schweren Stahlklotz mit 3 RÀdern am Bein und wirklich keinerlei Möglichkeit, der aktuellen Situation irgendetwas Positives abzugewinnen. Wie soll man das lösen?
Die Situation verbessert sich von Tag zu Tag
Aber das Leben geht dann doch irgendwann weiter: Polizei, Hotel, Autowerkstatt, nochmal Polizei, zahllose Mails und Telefonate mit der Versicherung und dem ADAC. Aber die BeschĂ€ftigung mit diesen Dingen allein lĂ€sst die Verzweiflung nicht abklingen. Wenn es irgendwann spĂŒrbar besser wird, liegt es daran, dass die Vorsehung dir nach und nach ein paar gute Karten in dein aktuell schlechtes Blatt gibt. Wir finden ein Hotel, in dem Hunde erlaubt sind, ein Kunde bezahlt unerwartet eine hohe Rechnung, Fabienne von der Versicherung sagt: âKriegen wir alles hin!â, die Werkstatt meint âWahrscheinlich ist der Schaden reparabel!â
Der eiserne Griff löst sich
Nach und nach löst sich der Griff der Verzweiflung, man wird handlungsfĂ€hig und aus Schwarz wird zumindest mal ein leichtes Grau. Man kann die Verbesserung des eigenen Blattes provozieren, indem man möglichst viel unternimmt, um Dinge zu regeln â das ist meine Strategie â und LiegestĂŒtzen machen, das hilft immer.
Unsere positiven TĂŒrkeierlebnisse gehen weiter und auf einmal ist Platz fĂŒr den Gedanken: âStell dir mal vor, du wĂ€rest verletzt worden!â Unvorstellbar â Aber: WĂ€re die Verzweiflung dann noch gröĂer gewesen? âSchlimmer gehtâs nichtâ ist ein Paradoxum. Es geht immer schlimmer.
Wir fahren mit dem Leihwagen umher und sehen ĂŒberall Wasserstellen â Der Unfall passierte auf der Suche nach einer Wasserquelle. WĂ€re der Unfall nicht passiert, wenn ich den Kaffee langsamer getrunken hĂ€tte? Diese Gedanken verschwinden mehr und mehr und jeden Morgen geht die Sonne auf und jeder Tag lĂ€sst ein wenig mehr Vergessen zu.
Das Leben geht besser weiter
Ich möchte diese Erlebnisse eigentlich nicht missen â auch wenn ich es nicht nochmal haben muss. Aber WohlfĂŒhlzonen zu verlassen bedeutet auch, öfter und massiver mit auĂergewöhnlichen Situationen konfrontiert zu werden und das prĂ€gt einen. Es hört sich blöd an, aber das leben wird wertvoller, wenn man Krisen gemeistert hat.
Wir wollen weiter in den Kaukasus, das ist das Minimalziel und das werden wir schaffen. Die Wartezeit wollen wir eventuell mit einem Besuch des 1000 Kilometer entfernten Ararat ĂŒberbrĂŒcken â per Nachtbus. Oder wir nutzen einen Inlandsflug nach Trabzon. Und wieder muss man raus aus der WohlfĂŒhlzoneâŠ
Zeit und Ziele neu bewerten!
Nach dem Unfall haben wir entschlossen, in aller Ruhe die Reparatur unseres Autos abzuwarten und zu realisieren, dass man Zeit nicht verlieren kann, man kann sie allenfalls schlecht nutzen.
Ein Abbruch unserer Reise kommt nicht in Frage, notfalls geht das Auto mit dem ADAC nach Hause und wir reisen als Backpacker weiter in den Kaukasus.
Das Leben in den Griff bekommen
Ich weiĂ nicht, ob andere Betroffene etwas ableiten können aus diesen Zeilen. Vielleicht funktioniert das auch nicht, wenn Tod oder schwere Verletzungen oder dramatische Schuldfragen im Spiel sind. Aber ich denke, dass wir fĂŒr unser Leben ein Blatt in der Hand haben, das mal schlecht, mal besser ist. Das Schicksal schiebt uns jeden Tag neue BlĂ€tter zu und wir mĂŒssen diese Geschenke annehmen. Meist verbessert sich das Blatt bis man im Spiel des Lebens wieder die echten TrĂŒmpfe aufspielen kann.
Ich danke an dieser Stelle meiner Frau Sylvia fĂŒr das Starksein in Momenten wo ich es nicht mehr konnte und die dafĂŒr sorgte, dass wir unser Leben wieder in den Griff bekommen haben.